Die Küstengebiete und Inseln im Osten von Mecklenburg-Vorpommern werden gerne als intakte Natur gesehen. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, denn eine intensive konventionelle Landwirtschaft und ein immer noch anschwellender, automotorisierter Massentourismus setzen Natur und Umwelt im Nordosten zu. Immerhin, durch die Großschutzgebiete, die in den letzten Tagen der DDR geschaffen und über die politischen Umbrüche nach 1989 hinaus bewahrt werden konnten, verfügt die Region offensichtlich über starke ökologische Resilienzen.
Die Kehrseite davon ist: Der Nordosten, Vorpommern, wird als eine Art Naturreservat wahrgenommen, als leerlaufende Region ohne Menschen, als „Wolfserwartungsgebiet“ (wo doch der Wolf längst schon wieder heimisch ist). Hier gibt es Seeadler und Kegelrobben. Die spannenden Geschichten und interessanten Gesichter jedoch, über die es sich zu schreiben lohnt, gibt es hier nicht, sie finden woanders statt. Auch Reisebeilagen namhafter Medien geben diesem Klischee nach.
Genau hier setzt der Band „Vorpommern. Von Menschen und Machern am Meer“ mit Unternehmerporträts an, von der Wirtschaftsfördergesellschaft Vorpommern im traditionsreichen Verlag Hinstorff in Rostock herausgegeben. Um es gleich vorweg zu sagen: Publikationen dieser Art laufen immer Gefahr, zu Werbebroschüren zu mutieren, weil sie Interessen und Eitelkeiten berücksichtigen müssen. Diese Klippe hat der Band umschifft.
Das Publikation liegt im Schnittpunkt aktueller Trends: Die Stimmen mehren sich, die das Leben und Arbeiten in den Großstädten nicht für das Nonplusultra halten. Ein Blick in die Zeitungen zeigt, die Provinz jenseits der Speckgürtel, das richtige, das „platte“ Land, erlebt derzeit eine Renaissance. Und die Idee, Arbeit und Leben besser in Einklang zu bringen, Work-Life-Balance, wird vielen Menschen wichtiger. Hinzu kommt die Digitalisierung, die Entfernungen schrumpfen lässt und Vernetzung und Kommunikation abseits der Metropolen in ganz neuen Maßstäben ermöglicht. Kurzum, das Land als Alternative zu den großen Städten wird in rasantem Maße attraktiver.
Die hier interviewten Entrepreneure sind zunächst denkbar undigital, sie beschäftigen sich mit dem Bau moderner Yachten und naturverträglicher Häfen, steuern große Segelschiffe, spinnen alte Handwerkstraditionen ins Heute weiter, managen Ausflugsflotten und Fischkutter und stellen hochwertige Lebensmittel her.
Alle diese Berufe und Gewerke sind nicht digital im Sinne von virtuell. Doch verbinden sich Handwerkskunst und althergebrachtes Know-how, die hier im Spiel sind, durchaus mit Hightech, nutzen modernste Lösungen zur Kommunikation, zur Fertigung, zur Steuerung von Maschinen und Anlagen, zur Navigation, zur Beschaffung und in der Logistik.
Vielleicht gehört dies zur Signatur des künftigen Arbeitens im Nordosten: praktisch produktiv, oft auch mit einer starken handwerklichen und erfahrungsbasierten Kompontente, zugleich aber auch bildungs- und wissensbasiert, zunehmend digital gestützt, hochtechnologisch und gobal vernetzt.
Dass das vorliegende Buch sich mit Unternehmerinnen und Unternehmern „am Meer“ beschäftigt kommt daher, dass es aus Mitteln des Projekts „South Coast Baltic“ der Europäischen Union gefördert wurde. Man kann es explemplarisch nehmen, es gäbe viele weitere Persönlichkeiten und Branchen, über die zu berichten wäre, darunter vor allem auch Jüngere und Frauen. Letztere sind in dem Band eindeutig unterrepräsentiert.
„Menschen und Macher am Meer“ illustriert die Region als Möglichkeitsraum, wo die Claims noch nicht bis in den letzten Winkel abgesteckt sind, wo Chancen noch nicht erkannt wurden und darauf warten, ergriffen zu werden.
Der Band zeigt etwas von der Vielfalt der Menschen im Nordosten, die oft nur auf den zweiten Blick sichtbar ist. Gerne hätte man noch mehr über die eine oder andere Persönlichkeit erfahren, ihre Motivation, ihr Umfeld. Hier hätte es dem Buch vielleicht gut getan, auf das Porträt zu setzen statt auf die flüchtige Form des Interviews. – Vielleicht in einem Folgeband!
Lars Herde
Vorpommern. Von Menschen und Machern am Meer
120 Seiten, Rostock 2019
Hinstorff, 20 Euro