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Ostseefischerei – kommt da noch was?

Am Strand des Ostseebades Zingst konnten Urlaubsgäste im Frühsommer 2021 eine eindrucksvolle Fotoausstellung bewundern: Dutzende meterhoher Porträts von Fischern in Arbeitskleidung. Die Porträtierten, im Jahr davor abgelichtet, wirkten inmitten der Urlaubskulisse wie Wesen aus einer fernen Zeit.

Die küstennahe »kleine« Ostseefischerei steht in Deutschland unter Druck, die Zahl der Fischer und Fischerinnen – ja, die gibt es auch – geht kontinuierlich zurück. Das ist in Schleswig-Holstein nicht viel anders als in Mecklenburg-Vorpommern. Heute werden an der deutschen Ostsee 417 Berufsfischer gezählt, Anfang der 1990er-Jahre waren es mehr als 1300. Damit droht eine jahrhundertealte Fischerei- und Küstenkultur gänzlich zu verschwinden.

Niedrige Fangquoten

Unterwegs auf Rügen und Hiddensee trafen Fischereiexpert:innen von Slow Food Deutschland anlässlich des »Tages der Meere« Anfang Juni 2021 den Fischer Sven Thürke im Hafen von Vitte. Die niedrige Fangquote für die »Brotfische« Hering und Dorsch sei das größte Problem der Fischer, erläutert Thürke unumwunden.

Die erlaubten Fangmengen für Hering und Dorsch in der westlichen Ostsee sind auf einem historischen Tiefststand angelangt, nahe Null. Die jährlichen Fangquoten werden von den EU-Ländern festgelegt, mal mehr, mal weniger dem Rat der Wissenschaft folgend. Die EU und die Länder haben erst jüngst die Abwrackprämien für Fischereifahrzeuge noch einmal erhöht, um mehr Fischer zum Aufhören zu bewegen.

Auf die Wissenschaft sind die Fischer nicht gut zu sprechen, wie auch Sven Thürke im Gespräch freimütig zugibt. Dennoch, die Empfehlungen der Forschung sind eindeutig und wohlbegründet. Neben einer jahrzehntelangen starken Befischung und komplexen ökologischen Prozessen spielt inzwischen die Klimakrise eine Schlüsselrolle beim Rückgang des Herings und des Dorschs. Deren Bestände sind infolge der immer wärmeren Ostsee gefährdet. Die Fischer bestehen darauf, die Zusammenhänge anders zu deuten.

Gefrustet von Freizeitanglern

Da bereits seit Jahrzehnten die erzielten Preise für Ostseefisch notorisch zu niedrig sind, wissen die Fischereibetriebe sich nicht anders zu helfen, als auf Menge zu fischen – komme, was wolle. Wurde das Gros der Fänge früher billig nach Dänemark verkauft, geht es heute in die nach Osteuropa abgewanderten großen Fischwerke, um schließlich als preiswerte Konserve oder Katzenfutter in unseren Supermärkten zu landen.

Die Fischer frustriert zusätzlich, dass die Politik dem gut organisierten Freizeitangler-Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern ähnlich hohe Fischmengen zubilligt wie der Berufsfischerei. Freizeitangler brächten eben mehr Geld ins Land, heißt es lapidar. Erst kürzlich eskalierte der Streit um den Boddenhecht, den die Freizeitangler am liebsten exklusiv befischen möchten; der Landwirtschaftsminister musste schlichten.

In Mecklenburg-Vorpommern bewegt sich die handwerkliche Fischerei zudem im Umfeld einer von saisonabhängigem Massentourismus geprägten Gastronomie, die dem Thema Nachhaltigkeit und Qualität keinen hohen Stellenwert einräumt. Aus der Tradition der DDR heraus galt lange, dass Urlaub in erster Linie preisgünstig zu sein habe, was Unterkünfte und Verpflegung angeht. Damit hat das Bundesland nach der Wende über viele Jahre großen Erfolg gehabt, die Ferienwohnungen, Hotelbetten und Übernachtungszahlen wurden immer mehr. Jetzt gerät das Tourismusmodell spürbar an seine Grenzen und die kritischen Stimmen auf Rügen, Usedom und an der Küste werden lauter.

Anonymer Fisch auf allen Tellern

Für den interessierten Esser ist es heute praktisch kaum nachvollziehbar, woher der Fisch in der Gastronomie des Bundeslandes kommt. Im unteren einstelligen Bereich soll der Fisch aus der Ostsee stammen, hört man. Den meisten Gästen ist das völlig egal, Hauptsache irgendwas mit Fisch. Das darf dann auch Pangasius sein! Fragen nach der Herkunft sind ungern gesehen, es herrscht die »Omertà«, eine Art Schweigegelübde.

Sicher gibt es auch die guten Beispiele. Die Gastronomie der Störtebeker-Brauerei in Stralsund bietet ihren durchaus angemessen bepreisten Tagesfang nur dann an, wenn der Fischer liefert. Mitunter finden sich unscheinbare Lokale mit Plastikstühlen, Familienbetriebe, die Fisch aus eigener Strandfischerei oder vom Fischer um die Ecke anbieten.

In Mecklenburg-Vorpommern haben Politik und Verbände über Jahrzehnte die Chance verpasst, durch Marketingmaßnahmen, etwa Herkunfts- und Qualitätszeichen, dem heimischen Seefisch mehr Wertschätzung zu verschaffen und eine regionale Marke aufzubauen. Die kleine Küstenfischerei wurde faktisch aufgegeben. Nachdem zuvor schon die Hochseefischerei gleich nach der Wende abgewrackt wurde, fehlte es im Land wohl an Mut und Ideen.

Generell tun sich jedoch auch die Fischer mit der Eigenvermarktung schwer. Sie verstünden sich nicht als Fischverkäufer, heißt es. Zugleich hätten sie die Erfahrung machen müssen, dass die wenigsten Küchenchefs mit einem fangfrischen Naturprodukt umgehen können. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Kultur der Direktvermarktung von Fisch anders als in Schleswig-Holstein an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns kaum entwickelt ist. Fisch vom Kutter ist eine Seltenheit.

Hiddenseer Kutterfisch

Hier kommt die Initiative »Hiddenseer Kutterfisch« ins Spiel. Ihr Initiator Mathias Schilling bewohnt mit seiner Familie die Insel Öhe und betreibt Rinderhaltung. Eine Zeitlang hat er sein Öhe-Biofleisch erfolgreich im rund 300 Fahrtkilometer entfernten Berlin verkauft. Mit fangfrischem Seefisch klappte das nicht: »Mit dem Fischwagen in Berlin und nur einer einzigen Sorte Fisch in der Auslage, weil am Vortag nichts anderes im Netz der Fischer war, das haben die wenigsten Kunden verstanden.« Heute schmunzelt er darüber.

Irgendwann muss sich Schilling entschlossen haben, die gesamte Wertschöpfung in die Hand zu nehmen und eine eigene, qualitätsorientierte Gastronomie zu schaffen – mit dem Fleisch seiner Rinder und dem heimischen Fisch. Gut ein halbes Dutzend Restaurants und Geschäfte hat der engagierte Enddreißiger nach und nach in der Region aufgebaut. Erst jüngst ist die traditionsreiche Stralsunder Fischhandlung »Rasmus« dazugekommen, bekannt für ihren Bismarck-Hering. Die hier verarbeiteten Heringe gehen in die lokale Gastronomie und werden in schmucken Holzkisten in alle Welt verschickt.

Angesicht der niedrigen Erträge entwickelten die Hiddenseer Fischer mit Schilling eine Vision: Fischkonserven, geschmacklich hochwertig, transparent, regional verwurzelt und zu einem fairen Preis. Die Initiative »Hiddenseer Kutterfisch« war geboren.

Kaum jemand vor Ort glaubte an die Idee, den Hering hochpreisig zu vermarkten. Heute stehen die Fischdosen im künstlerisch gestalteten Kartonschuber in den führenden Feinkostläden von Hamburg bis München, gefüllt mit heimischem Fisch nach eigens entwickelten Rezepten. »Hiddenseer Kutterfisch« ist drauf und dran, eine Kultmarke zu werden.

Zukunft der handwerklichen Fischerei?

Was es braucht, um die handwerkliche Fischerei zu erhalten, war auch Thema einer Veranstaltung, zu der Slow Food Deutschland in Schillings Gasthof am Hafen von Schaprode auf Rügen einlud. Die Frage traf offensichtlich einen Nerv, der NDR hatte sich angekündigt, auch die Politik war da.

Für Slow Food Deutschland war es eine Gelegenheit, die eigene Position mit lokalen Akteuren zu teilen: »Wir setzen uns für eine Stärkung der handwerklichen Fischerei ein, um die regionaltypische Fischerei zu erhalten und die biokulturelle Vielfalt der Region zu bewahren und teils erst einmal wieder bekannt zu machen«, erklärte Dr. Nina Wolff, Vorsitzende von Slow Food Deutschland und selbst Fischereiexpertin. »Wir wollen die Diversität von Fisch und Meeresfrüchten auf dem Teller auch für künftige Generationen sichern und für einen meeresgesunden Fischgenuss begeistern.«

Die Gäste konnten den in Schaprode angelandeten Fisch frisch zubereitet genießen, Hornhecht und Ostsee-Makrele. Die Reden und Gespräche an der langen Tafel gingen hin und her, die Sache war ernst.

»Wir müssen aufpassen, dass die Fischer und ihr Handwerk nicht immer mehr zur Folklore werden, wenn sie nur noch im Hafen Netze flicken, um als Anschauungsobjekte für Touristen zu dienen«, warnte Heiko Miraß, Politiker auf der Insel Rügen, beruflich als Staatssekretär im Schweriner Finanzministerium tätig.

Auch wenn abschließende Antworten an diesem Abend rar waren, einige Hinweise gab es doch: Die Zukunft liege weniger im Frischfisch, sondern in der Verarbeitung des vorhandenen Fischs zu Produkten, nachhaltig und hochwertig. Da seien jetzt die Jungen gefordert, neue Ideen zur Verkaufsreife zu bringen. Die Politik könne gezielt fördern, auch im Landesmarketing mehr tun für die heimischen Produkte in handwerklicher Qualität.

Erste Anfänge einer neuen Kultur hochwertiger Fischfeinkost an der Ostsee gibt es bereits hie und da – Nachwuchsfischer, die sich mit dem Lebensmittelhandwerk in der Stadt zusammentun.

Appetit auf Weißfisch machen

Und warum nicht auch vermehrt jene »weißen« Fischarten fangen, die in der Ostsee und den Boddengewässern in großer Vielfalt vorhanden sind und nur wenig befischt werden? Die Fischer wären dazu bereit, sagen sie, nur werde dieser Fisch kaum nachgefragt. Anders als die polnischen Nachbarn hätten die Deutschen es verlernt, mit grätenreichen Fischen in der Küche oder auf dem Teller umzugehen. Hier brauche es öffentliche Nachhilfe, Informationskampagnen und Weiterbildung für die Gastronomie.

Mathias Schilling ist diesen Sommer bereits auf eine neue Idee gekommen: Er serviert seinen Gästen kleine Ostsee-Sprotten, auf denen kaum Fischerdruck lastet, und um die sonst nicht viel Aufhebens gemacht wird. Meist kommen Sprotten lieblos geräuchert daher. Im »Hafenkater« auf Hiddensee werden sie ohne Kopf leicht mehliert, fein gewürzt und knusprig ausgebacken. Ein Hingucker auf dem Tisch und ein schöner sommerlicher Snack, ideal zu Sonne, Strand und einem kühlen Bier oder Weißwein. Bestimmt lässt sich mit der Sprotte noch viel mehr machen.

Der Text erschien in abgewandelter Form im Slow Food Magazin, Ausgabe 04/2021